Die Wahrheit und andere Lügen

Szene eines Bewerbungsgesprächs.
Interviewer: «Was ist Ihre grösste Schwäche?»
Bewerber: «Meine Ehrlichkeit.»
Interviewer: «Ich denke nicht, dass Ehrlichkeit eine Schwäche ist.»
Bewerber: «Mir scheissegal, was Sie denken.»
von Jan Skudlarek
Mit der Ehrlichkeit ist das so eine Sache – sie hat ihre Grenzen. Nicht nur das, was wir wissen und sagen können, beschränkt unsere Ehrlichkeit, sondern auch das, was wir sagen sollten. Der Bewerber aus unserem Vorstellungsgespräch wird die Stelle mit seiner (oder ihrer), nun ja, überehrlichen Antwort wohl kaum bekommen. Selbst Redaktionen, die auf der Suche nach pointierten Comedyautor:innen sind, dürften angesichts einer schlagfertigen, aber unhöflich-unpassenden Antwort erst mal stutzen.
Die Berufswelt ist nur eine soziale Sphäre von vielen, in der Aufrichtigkeit zwar gefragt, vorausgesetzt und grundsätzlich honoriert wird, ein Übermass derselben aber nicht nur als Makel gilt, sondern sogar zu Sanktionen führt. Ähnliches gilt beim Flirten, in der Politik oder bei der Frage, ob das Essen geschmeckt hat. Wahrheit sehr gerne, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, ab dem ein Zuviel an Wahrheit problematisch wirkt, schlimmstenfalls komplett deplatziert.
Dem «Zu viel Wahrheit ist auch nicht gut»-Prinzip verpflichtet zeigte sich der deutsche Innenminister im Merkel-Kabinett, Thomas de Maizière, im Jahr 2015. Als ein Fussballspiel aufgrund einer Bombendrohung abgesagt werden musste, verweigerte Herr de Maizière, von Journalisten auf konkrete Informationen zur Bedrohungslage angesprochen, die weitere Auskunft mit dem später berühmten Satz «Teile meiner Antwort würden die Bevölkerung beunruhigen». Selbstverständlich war es dann diese ausweichende Antwort auf der Metaebene, die die Bevölkerung mehr beunruhigte, als jede tatsächliche Bedrohungslage es je getan hätte – jede:r konnte die kryptischen Worte des Innenministers mit eigenen Schreckensvorstellungen füllen. Als eine Empörungs- und Angstwelle über den Innenminister hereinbrach, war es bereits zu spät für eine Korrektur in Form einer Notlüge.
Es scheint: Manchmal ist ein bisschen Flunkern okay. Ein bisschen Unaufrichtigkeit wird erwartet und miteinkalkuliert. Und in besonderen Fällen richtet die Wahrheit viel mehr Schaden an als die Notlüge.
Wie passt das zusammen? Ehrlichkeit einerseits erwarten und andererseits Ehrlichkeit sanktionieren?
Das Wahrheitsproblem ist eines der Kernprobleme der Philosophie. Dementsprechend lebhaft, vielschichtig und komplex wird es seit der Antike diskutiert.
Um das zu verstehen, sollten wir die Phänomene Lüge, Wahrheit und Ehrlichkeit etwas genauer unter die philosophische Lupe nehmen.
Die Philosophie selbst enthält in Form der sophía (griech. Weisheit) schon eine begriffliche Verwandtschaft zur Wahrheitsproblematik. Weisheit und Wahrheit sind zwar verschiedene Dinge, als weise gilt jedoch derjenige, der viel Erkenntnis bereithält bezüglich der wahren Natur der Dinge. Das Wahrheitsproblem ist eines der Kernprobleme der Philosophie. Dementsprechend lebhaft, vielschichtig und komplex wird es seit der Antike diskutiert. So antworten Korrespondenztheorien der Wahrheit, Wahrheit sei eine Übereinstimmung der Vorstellung mit der Realität oder, um Thomas von Aquin (1225 –1274), einen berühmten Vertreter dieser Denkrichtung, zu zitieren: «Ich antworte, es sei zu sagen, dass Wahrheit in der Übereinstimmung von Verstand und Sache besteht» (Veritas consistit in adaequatione intellectus et rei).
Während die meisten von uns immer noch an Tatsachen und eine halbwegs erkennbare Wirklichkeit glauben, rücken in der modernen Philosophie Aussagen über diese Wirklichkeit zunehmend ins Zentrum der Wahrheitsfrage.
Wahrheit bezieht sich demnach weniger direkt auf die Wirklichkeit. Wahr oder falsch sind Aussagen über die Wirklichkeit.
Hier vollziehen wir die Schleife zurück zum Problem der Lüge.
Ein Beispiel: Peter wird von Marianne nach der Uhrzeit gefragt. Er schaut auf seine analoge Armbanduhr und sagt: «Es ist neun Uhr morgens.» Allerdings liegt Peter falsch. Es ist acht Uhr morgens, eine Stunde früher. Es ist nämlich Sonntag, der einunddreissigste Oktober, und in der Nacht zuvor wurden die Uhren um eine Stunde zurückgestellt auf die Winterzeit. Peter hat es schlichtweg bisher nicht mitbekommen oder, im wahrsten Sinne: verschlafen.
Seine Aussage «Es ist neun Uhr morgens» ist also objektiv falsch zum Zeitpunkt, als er sie tätigt.
Ist Peter deswegen ein Lügner?
Die Intuition sagt: Nein.
Eine geäusserte Unwahrheit allein reicht nicht zur Lüge. Peter aus dem Beispiel antwortet, nach der Uhrzeit gefragt, nach bestem Wissen und Gewissen. Was ihm komplett fehlt, ist eine Täuschungsabsicht.
Wahrheit bezieht sich demnach weniger direkt auf die Wirklichkeit. Wahr oder falsch sind Aussagen über die Wirklichkeit.
Variieren wir das Beispiel leicht: Peter ist in Marianne verliebt, sie aber nicht in ihn. Um zu verhindern, dass Marianne pünktlich zum Brunch mit ihrem neuen Bekannten Johannes erscheint, sagt ihr Peter auf Nachfrage nach der Uhrzeit absichtlich die falsche Uhrzeit – aus Eifersucht möchte er das Treffen verhindern.
Ob wir lügen oder nicht, hängt zentral mit einer Täuschungsabsicht zusammen. Die Wahrhaftigkeit ist relevant. Es geht um die Frage, ob Peter selbst weiss, dass er gerade die Unwahrheit sagt, oder nicht.
Allgemeiner gesagt: Wer flunkert, weiss, dass er flunkert.
Mit welcher inneren Haltung wir Aussagen tätigen, trägt also ganz entscheidend zu ihrem Wesen bei. Eine «Ethik der Lüge» muss bei ihrer Bewertung das Warum der Unwahrheit miteinbeziehen. Eine Lüge, mit der Peter seine Marianne aus Eifersucht täuscht, ist kategorisch sowie moralisch gesehen anders als zum Beispiel eine Lüge, mit der Peter Marianne aus Fürsorge schützen möchte (eine sogenannte Notlüge).
Die Grundfrage, wie viel Ehrlichkeit zu welchem Zeitpunkt geboten ist, lässt sich schwer abstrakt beantworten. Vieles spricht dafür, solange mit einer inneren Haltung der Wahrhaftigkeit die Wahrheit zu sagen, wie man kann – und nur dann zu flunkern oder gar zu lügen, wenn man muss. Vor allem sollte es gute Gründe geben für dieses Lügen-Müssen.
Ganz vermeiden lässt sich die Unwahrheit jedenfalls nicht. Schon Drei- bis Vierjährige üben sich fleissig in der Kunst der Verstellung. Sozialpsycholog:innen gehen davon aus, dass jeder von uns Erwachsenen mehrfach täglich lügt und belogen wird, oder zumindest flunkert oder nicht die ganze Wahrheit erzählt. Diese Erkenntnis soll keineswegs relativieren, dass Fake News-Lügenbarone wie Donald Trump der Gesellschaft schaden, indem sie durch ihre konstanten Lügen das Prinzip der Aufrichtigkeit selbst demolieren. Zu präsidentiellen Zeiten schaffte Trump mühelos eine zweistellige Zahl nachgewiesener Falschaussagen täglich. Nichtsdestoweniger gibt es Situationen, in denen die Halbwahrheit, die Flunkerei und die wohlwollende Unehrlichkeit allesamt ihre soziale Funktion haben. Dort, wo die soziale Funktion die reine Erkenntnisfunktion überlagert und wir niemanden arglistig täuschen, können wir, ausnahmsweise, wahrheitstechnisch fünf gerade sein lassen.
Versprochen. Ehrenwort.
Dies hat gute Gründe, selbst wenn es Teile der Bevölkerung beunruhigt.
Dr. Jan Skudlarek (*1986) ist promovierter Philosoph und beschäftigt sich in seinen Büchern und Artikeln mit gesellschaftsphilosophischen Themen. Seit der Corona-Krise arbeitet Skudlarek vermehrt in der Verschwörungstheorie-Aufklärung – u.a. im Rahmen von (Online-)Workshops klärt er über konspiratives Denken auf. Er arbeitet ferner als Ethik-Dozent und ist im wissenschaftlichen Beirat von veritas – die Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen. Zuletzt erschien Wahrheit und Verschwörung (2019) bei Reclam. Unterwegs auf Twitter und Instagram.
Dieser Text erschien im DAVOS FESTIVAL Magazin 1/22.