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In der Musik ist das Thema Plagiate so heikel wie omnipräsent.
Wohl kein anderes Mittel scheint zur Dekonstruktion von Autorität so gut geeignet zu sein wie der Plagiatsvorwurf oder gar der Beweis, jemand habe im grossen Stil woanders abgeschrieben. Ideenklau scheint im 21. Jahrhundert gesellschaftlich sogar moralisch verwerflicher zu sein als etwa der Klau von Steuergeldern, der weit mehr Menschen schadet als den Käufer:innen eines Buches – man vergleiche allein die quantitative Berichterstattung über Olaf Scholz’ Verwicklungen in den Wirecard-Bilanzskandal und über Annalena Baerbocks Buch Jetzt. Wie wir unser Land erneuern im deutschen Bundestags-Wahlkampf 2021. Doch das nur zu Beginn.
von Hannah Schmidt

Eine post-aufgeklärte Gesellschaft, in der seit etwa 300 Jahren das Höchste der menschlichen Schaffenskraft und damit verbunden das Idealbild menschlicher Existenz dem Genie vorbehalten ist, legt mehr Wert auf die Einzigartigkeit und Einmaligkeit eines Gedan­kens als beispielsweise auf das ethische Handeln einer Person. Zum Geniebild gehöre, so wird der Literaturwissenschaftler und Initiator der Heidelberger Vorträge zur Kulturtheorie, Prof. Dieter Borch­meyer, in einem Beitrag des Deutschlandfunks zitiert, dass das Genie «eine Art Creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts betreibt, das heisst, dass es sich nicht auf vorgefertigte Regeln und Muster verlässt, sondern dass es aus sich heraus schafft». Der hie­rarchische Glaube an das Genie eines Menschen ist also unmittelbar an dessen vermeintlich singuläre Ideen und Fähigkeiten geknüpft – und umso schneller stürzt ein Genie vom Sockel, wenn ihm Pla­giierung vorgeworfen wird. Das Gegenteil von Genie ist, wenig überraschend, die Kopie.

Nun könnte man argumentieren: Weil beispielsweise Johannes Brahms’ Ungarische Tänze oder John Williams’ berühmtes Star Wars-Thema auf den Ideen anderer Musiker:innen beruhen, sie viel­leicht in Teilen gar kopieren, ist doch die Musik, ist doch das, was Brahms und Williams geschaffen haben, nicht weniger grossartig. Diese Narrative sind dominant, vor allem das Argument, dass Kom­ponisten wie diese beiden das vorhandene Material derart eigen­ständig weitergedacht, bearbeitet, arrangiert haben, dass sich die Genialität ihres Werks aufs Neue rechtfertigen lässt. Basierend auf fremden Ideen also erschaffen ihre Werke etwas neues Einzigartiges, oder anders ausgedrückt mit den Worten des römischen Dichters Lukrez: «Es gibt nichts, das aus dem Nichts erschaffen wird», genauso wenig klassische Musik.

Der Unterschied zwischen einem Zitat und einem Plagiat ist dabei fliessend: Das eine verweist klar auf das Werk einer anderen Person, das andere macht sich deren Ideen zu eigen. Wie eindeutig muss, wie verschleiert darf ein Zitat deshalb sein? Nicht alle hand­habten das musikalische Zitieren dabei so elegant wie beispiels­weise Béla Bartók in seinem Konzert für Orchester: Im vierten Satz erscheint eine kurze Melodie aus Dmitri Schostakowitschs Lenin­grader Sinfonie, die wiederum ein Zitat aus Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe darstellt. Kurz nach diesem Doppelzitat schreibt Bartók die deutlich hörbare Tonfolge D-Es-C-H in die Klarinetten­stimme – das musikalische Anagramm von Dmitri Schostako­witsch. Eine so gesehen saubere innermusikalische Fussnote, die, steigt man tiefer in den Hintergrund der Leningrader ein, auf deut­lich mehr verweist als nur auf ein paar Töne.

Allein: So einfach ist es mit dem Zitieren, Verweisen und Pla­giieren nicht immer. In dem Moment, in dem ein:e Komponist:in ohne entsprechenden Verweis mit den Melodien und musikali­schen Ideen anderer grösseren Erfolg erzielt als die möglicherweise weniger berühmten oder mächtigen Urheber:innen selbst, ist ein Plagiat nicht nur ein Plagiat, sondern eine – möglicherweise gar systemische – himmelschreiende Ungerechtigkeit, die nicht selten (auch in der populären Musik) im Rechtsstreit endet.

Kulturelle Aneignung könnte in gewisser Weise auch als eine Form des Plagiats betrachtet werden, als eine Form des geistigen Diebstahls an Marginalisierten mit dem Ziel des kommerziellen Erfolgs.

Denken wir an die vielen Komponistinnen, denen es historisch verboten war zu komponieren und deren Werke von Komponisten aus ihrem Umfeld benutzt und als die eigenen ausgegeben wurden – zwei Beispiele sind Clara Schumann und Fanny Hensel, deren Kompositionen wahrscheinlich zum Teil unter Robert Schumanns und Johannes Brahms’ Namen an die Öffentlichkeit gelangten. In fast allen bekannten, auch historischen Plagiatsfällen schrieben nicht die weniger Berühmten bei den Berühmten ab – es wäre ja auch sofort aufgefallen –, sondern die bereits Erfolgreichen bei denjenigen, die aus unterschiedlichen Gründen unter dem Radar flo­gen. Diese wiederum waren nicht selten marginalisierte oder diskriminierte Menschen: Frauen, Schwarze, Jüd:innen und andere. Der Grat zwischen Anerkennung und Aneignung, zwischen Hom­mage und Plagiat ist auch hier ein schmaler – ebenfalls dann, wenn es nicht nur um einzelne Stücke, sondern um ganze Genres geht.

«Der King of Rock’n’Roll heisst Elvis Presley, und Frank Sina­tra wird bis heute als bester Jazzsänger aller Zeiten gefeiert, obwohl diese Musikrichtungen ohne Afroamerikaner:innen nicht entstan­den wären», schreibt die Journalistin Alice Hasters in ihrem Buch Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Zwar sind sogenannte Schwarze Musikrichtungen wie Hip-Hop und R’n’B heutzutage besonders beliebt – und Schwarze Künstler:innen wie Rihanna und Beyoncé sind in diesen Genres sehr erfolgreich –, doch profitieren finanziell vor allem weisse Menschen von diesen Richtungen: «Die meisten Chef:innen der gros­sen Plattenlabels und Streamingdienste in den USA und Europa sind nämlich weiss und verdienen in der Regel weitaus mehr Geld als die Künstler:innen, die sie vertreten», so Hasters. Die hochdo­tierten Preise gingen in der Vergangenheit ebenfalls vor allem an weisse Musiker:innen wie Eminem und Macklemore statt an ihre Schwarzen Kolleg:innen. Kulturelle Aneignung könnte so gesehen in gewisser Weise auch als eine Form des Plagiats betrachtet wer­den, als eine Form des geistigen Diebstahls an Marginalisierten mit dem Ziel des kommerziellen Erfolgs.

Nur ist es auch hier nicht ganz so einfach. Die übergeordneten Dynamiken sind zwar klar erkennbar: Die eine Partei wird mit einer künstlerischen Idee nicht erfolgreich, muss sich dafür vielleicht gar lächerlich machen lassen. Die andere Partei dagegen gewinnt mit der gleichen Idee Preise. Durch die Aufdeckung eines solchen Zu­sammenhangs kann jedoch die Aufmerksamkeit wiederum auf die eigentlichen Urheber:innen zurückstrahlen – kulturelle Aneignung mag für Betroffene schmerzhaft, in Einzelfällen aber auch ein Tür­öffner sein.

Die Liste möglicher musikalischer Plagiatsfälle ist endlos, ge­nauso die häufige Unsicherheit darüber: Haben die Beatles mit Let It Be bei Johann Pachelbel abgeschrieben, weil ihr Song auf der glei­chen eingängigen Akkordfolge basiert wie dessen berühmter Kanon in D-Dur? Oder handelt es sich bei dieser harmonischen Verbin­dung mittlerweile um allgemeines Kulturgut? Wie viel Musik mag komponiert worden sein, ohne dass den Komponierenden dabei bewusst war, dass sie sich gerade erinnerten, anstatt etwas neu zu erfinden? Auch der Geist eines vermeintlichen Genies ist fehlbar, «unbewusste Plagiate» existieren zuhauf. Dass Ideen geklaut, ko­piert und zu Profit gemacht werden können, teilweise ohne dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen und die Bestohlenen entschädigt werden, liegt leider in der Natur der Sache: Eine Idee ist an sich nichts Materielles, weshalb im deutschen Urheber­recht auch nur «Werke», das heisst «persönliche geistige Schöp­fungen», geschützt werden. Die wiederum müssen bewiesen werden, etwa durch Zeug:innenaussagen oder die Hinterlegung bei einer Notarin oder einem Notar – bis dahin gehören sie, so unge­recht das manchmal sein mag, allen.

 

Hannah Schmidt ist 84% Ruhrgebietskind, 93% Nerd, 89% Metadenkerin und 99% Feministin. Sie schreibt als freie Autorin u.a. für DIE ZEIT, Die Deutsche Bühne und VAN-Magazin.

Dieser Text erschien im DAVOS FESTIVAL Magazin 1/22.