Ungelogen

von Andrea Haefely
Und? Heute schon gelogen? Wer jetzt verneint, lügt sicher. Und sei es nur, dass Sie heute Morgen im Büro auf die Frage «Wie geht’s?» mit «Gut» geantwortet haben, obwohl Sie unter Blähungen leiden – Ihre Freundin Carola hatte gestern mal wieder ihren berüchtigten Kohleintopf aufgetischt. Und dann war da noch der Legostein, auf den Sie gleich nach dem Aufstehen getreten sind, und die saure Milch im Kaffee, die Sie erst bemerkten, als das grässliche Gebräu auf Ihre schutzlosen, noch schlaftrunkenen Geschmacksknospen traf.
Gut? Im Ernst? Ehrlich geht anders.
Der Mensch pflegt ein ambivalentes Verhältnis zur Lüge. Wir fürchten den Vertrauens- und Kontrollverlust, der mit dem Belogenwerden einhergeht. Trotzdem lügen und schwindeln wir alle weitaus häufiger, als wir uns und unserer Umwelt eingestehen mögen. Tatsächlich beugen wir die Wahrheit im gesellschaftlichen Kontext so automatisch, dass wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind – laut Studien mehrmals täglich.
Und das ist gut so. Ohne das Schmiermittel Lüge würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Wir wären den ganzen Tag damit beschäftigt, abwechslungsweise verletzt und verletzend zu sein. Das Leben ist nun mal leichter zu ertragen, wenn man nicht mit dem Holzhammer auf die eigenen Unzulänglichkeiten hingewiesen wird. Es ist auch wenig zielführend, dem Arbeitskollegen den Tag zu verderben, indem man ihm frühmorgens auf sein «Wie geht’s?» antwortet «Besser, wenn Du mich in Ruhe lassen würdest». Die kleine Höflichkeitslüge «Danke, gut, nett dass Du fragst» lässt den Rest des Tages für alle Beteiligten deutlich angenehmer verlaufen.
Auch evolutionstechnisch gesehen hat die Lüge viel Gutes: Sie hilft uns zu überleben. Der US-Evolutionsbiologe Robert Trivers etwa ist überzeugt, dass sich Elemente unserer psychischen Grundausstattung wie Neid, Schuldgefühle, Misstrauen und Vergesslichkeit nur entwickelt haben, um List und Trug zu entdecken und ihnen zu entgehen. Er führt die Tatsache, dass sich unser Gehirn im Laufe der Evolution vergrössert hat, darauf zurück, dass der Mensch zum Überleben täuschen und tricksen musste. Denn das Lügen erfordert eine weit grössere Hirnleistung als das Ehrlichsein.
Trotzdem heisst es im achten der zehn Gebote unmissverständlich «Du sollst kein falsches Zeugnis wider Deinen Nächsten geben». Und Eltern bringen ihren Kindern schon früh bei, dass lügen schlecht ist. Verständlicherweise. Nicht jede Lüge ist der Höflichkeit geschuldet. Lügen können grossen Schaden anrichten, sie können Beziehungen zerstören, ja sogar Kriege auslösen.
Ein Blick ins Wörterbuch zeigt den Spannungsbogen, der sich zwischen guter und böser Lüge, zwischen einer geschwindelten Nettigkeit, schelmenhaftem Flunkern und bösartigem Hintergehen auftut: Es wird nicht nur gelogen. Es wird in die Irre geführt, geblufft, Jägerlatein erzählt, betrogen, geschwindelt, geschummelt, geprellt. Es gibt die Finte, das Lippenbekenntnis, die Höflichkeitslüge, die Räubergeschichte, die faule Ausrede, das Ammenmärchen. Ganze 178 Synonyme kennt die deutsche Sprache für die Unwahrheit, immerhin noch 117 für das Verb «lügen».
Manche sind in sich selber schon eine kleine Lüge. Etwa das Ammenmärchen, das den Sachverhalt der Täuschung verniedlicht – wer möchte einem Märchen aus dem Mund einer Amme schon Böses unterstellen?
Ohne das Schmiermittel Lüge würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.
Das Wort «Plagiat» hingegen ist ein Hochstapler. Es tut mit seiner lateinischen Herkunft nobler, als es ist. Wenn Kevin in der Matheprüfung bei Lisamarie abschreibt, kommt niemand auf die Idee zu sagen, er hätte ein Plagiat begangen. Kevin hat schlicht geschummelt. Wenn hingegen ein honorabler Politiker wie der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg für seine Dissertation bei jemand anderem abschreibt, ist das Wort «schummeln» wiederum nicht die erste Wahl. Da muss das grosse «Plagiat» her.
Guttenberg hatte in seiner Doktorarbeit an 23 Stellen abgeschrieben, ohne eine Quelle anzugeben. Als die «Plagiatsaffäre» 2011 aufflog, dauerte es gerade mal zwei Wochen bis zu Guttenbergs Rücktritt. Und seinen Doktortitel war er natürlich auch los.
Fakt bleibt aber: Kevin und Karl-Theodor haben das Gleiche gemacht. Sie haben beide geistiges Eigentum ohne Quellenangabe verwendet. Da täuscht auch ein lateinisches Wort nicht drüber hinweg.
Der Verlockung, Ideen von Dritten als die eigenen auszugeben, erliegen auch Kulturschaffende, insbesondere Musiker. Unlängst musste die Rapperin Nicki Minaj 450 000 US-Dollar an die amerikanische Singer-Songwriterin Tracy Chapman bezahlen. Sie hatte 2018 ein Remake eines Chapman-Songs veröffentlicht, ohne deren Einverständnis einzuholen. Bei einem geschätzten Vermögen von 80 Millionen US-Dollar konnte die «Queen of Rap» die Entschädigung finanziell sicherlich verkraften. Peinlich war der Vorfall aber allemal.
Selbst die Beatles hatten 1965 einen Urheberrechtsstreit an der Backe. John Lennon hatte sich für den Text von Come Together, dem ersten Lied des Albums Abbey Road, bei Chuck Berrys Song You Can’t Catch Me bedient. Rechteinhaber war ein gewisser Morris Levy. Statt Geld verlangte Levy von Lennon, drei weitere Lieder, an denen er bereits die Rechte besass, in eine Beatles-LP zu integrieren.
Bob Dylan, der gefeierte Balladenbarde und Lyriker, war sich nicht zu schade, für seine Nobelpreisrede 2016 bei Herman Melvilles Romanklassiker Moby Dick abzuschreiben. Ganze 20 Sätze kupferte er ab. Dabei bemühte er noch nicht einmal das Original, sondern bediente sich aus einer Online-Interpretationshilfe für Schüler und Studenten. Der Nobelpreis war ihm ausgerechnet in Literatur verliehen worden.
Selbst die Beatles hatten 1965 einen Urheberrechtsstreit an der Backe.
Ein ganzes Lügengebilde erschuf der deutsche Musikproduzent Frank Farian. Er präsentierte Mitte der Siebzigerjahre die Disco-Band Boney M. Insgesamt 150 Millionen Tonträger, darunter über 60 Millionen Singles, gingen weltweit über den Ladentisch. Ihre grössten Hits: Daddy Cool, Ma Baker und Rivers of Babylon – letzterer ein Titel der jamaikanischen Reggae-Band The Melodians, den Farian für das Projekt «ausgeliehen» hatte.
Boney M. bestand aus Leadsänger Bobby Farrell sowie den drei karibischen Sängerinnen Maizie Williams, Marcia Barrett und Liz Mitchell. Nur zwei der vier Bandmitglieder waren stimmlich auch nur ansatzweise so weit auf der Höhe, dass sie die Songs im Studio aufnehmen konnten. Bobby Farrell gehörte nicht dazu. Seine tiefe Stimme, das Markenzeichen der Band, lieferte Produzent Frank Farian gleich selber.
Ende der Achtzigerjahre ging Farian mit der Band Milli Vanilli noch einen Schritt weiter: Das Duo sang keine einzige Note ihrer ongs, tanzte lediglich und bewegte die Lippen im Playback zu den Gesangsstimmen anderer. Zwar hatte einer der wirklichen Sänger der Milli-Vanilli-Songs, der Rapper Charles Shaw, schon 1987 einem Reporter erzählt, dass es sich bei Milli Vanilli um eine reine Playback-Band handle. Produzent Farian konnte den Skandal aber gerade noch abwenden. Er bot Shaw Geld an, damit der seine Aussage zurückzog – was dieser auch tat.
1990 erhielt die Retortenband einen Grammy-Award für ihr zweites Album. Kurz darauf flog der Betrug endgültig auf: Bei einem Live-Auftritt blieb das Playback-Tape stehen und der Gesang damit weg. Auf der Bühne standen zwei musikalische Hochstapler, vor der Bühne ein entzaubertes Publikum.
Mindestens sechs Sänger beider Geschlechter hatten der Retortenband bis dahin ihre Stimmen geliehen. Insbesondere in den USA war die Empörung gross, und ein US-Gericht verfügte, dass jeder Käufer eines der beiden Alben eine Entschädigung erhalten sollte.
Auch in der bildenden Kunst schmückt sich ab und zu ein Künstler mit fremden Federn. Pop-Art-Künstler Jeff Koons musste an einen französischen Fotografen eine Schadensersatzzahlung von 20 000 Euro leisten. Der Amerikaner hatte sich bei dem Franzosen das Motiv für eine Porzellanfigur abgeschaut.
Egal ob Primarschüler, Verteidigungsminister oder Rap-Queen, egal ob Sie oder ich: Die Lüge ist eine Grundkonstante der menschlichen Kommunikation und damit des menschlichen Daseins. Das Gute daran: Höflichkeitslügen kosten nichts.
Andrea Haefely hat in Zürich Kunstgeschichte und Anglistik studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Redaktorin beim Beobachter. Bei ihrer journalistischen Tätigkeit hat sie fast täglich mit Lügnern, Betrügerinnen und Augenwischern zu tun und ist schon lange davon fasziniert, wie wichtig die Lüge für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist.
Dieser Text erschien im DAVOS FESTIVAL Magazin 1/22.
Bild © iStock / Lucas Mösch