Ein besonderes Jahr
Graziella Contratto, Intendantin 2007—2013

Was ist deine schönste Erinnerung an das Davos Festival?
Die Entscheidung fällt mir schwer, weil ich in Davos immer viele Stränge miteinander verknüpfen durfte: Orte, Klänge, Artists und Zuhörende verbanden sich zu einer Einheit. Wir bespielten Ställe, Käsereien, Wohnläden, Hotels, Clubs, Museen, Parks, Kapellen und Privatgärten. Vielleicht war aber doch die «Zauberbergoper» in der Lobby des Hotels Schatzalp ein Programm, das mich ganz besonders glücklich gemacht hat: zum 25. Jubiläumsjahr des Davos Festivals komponierte der ungarische Dirigent Gregory Vajda ein Musiktheater mit Motiven aus dem Zauberberg, die deutsche Regisseurin Bettina Geyer inszenierte, zahlreiche junge Sängerinnen und Sänger wurden vom Ensemble Laboratorium begleitet, und das Publikum sah sich in die Zeit des Zauberbergs von Thomas Mann zurückversetzt (wir sassen auf den Fenstersimsen und fühlten uns ganz castorpisch oder chauchatisch).

Welche besondere Herausforderung hast du während deiner Intendanz erlebt?
Ganz ehrlich, es gab keine, die mein fantastisches Team nicht in den Griff bekommen hätte: Dolores Mark als Geschäftsführerin, Matthias von Orelli als Präsident, all die Helfer*innen vor Ort, die Techniker, die Hoteliers, die Mäzene und Sponsoren, die Gäste und langjährigen Festivalfans – es wurde jedes Mal zu einem Fest. Ein einziges Mal kam ich etwas an meine Grenzen, als unsere gerade mal sechs Monate alte Tochter Fieber und Verdauungsprobleme hatte und ich die verschiedenen Uraufführungen eines Konzerts ansagen und moderieren durfte – nach jedem Stück hastete ich zurück zum Eingangsbereich, wechselte dem Kind die Windeln, strich ihm über den Kopf und versuchte mit einem Ohr trotzdem noch die sehr zeitgenössischen Klänge aus dem Saal mitzubekommen – immerhin waren es Auftragswerke des Festivals. Ich hoffe, unsere Tochter hat keine traumatischen Trigger-Erfahrungen mit Neuer Musik …

Wie siehst du die Zukunft des Davos Festivals und welche Entwicklungen würdest du dir wünschen?
Ich bin total begeistert von der Intelligenz der Programme, der hochkarätigen Spielfreude der Young Artists und von den verschiedenen neu hinzugekommenen Aktivitäten unter Marcos Leitung. Reto Bieri hat bereits viele neue Felder bespielt, mit Marco kommt die Stimme noch mehr in den Fokus, gesellschaftliche Anliegen werden konkret angesprochen und kreativ-künstlerisch umgesetzt. Neue Formate mit Performance, Sound Arts, fluide Formen stehen neben klassischen Konzerten, die immer noch ein Herzstück des Festivals ausmachen – und das ist gut so!
Als Anregung: Die vermehrte Zusammenarbeit mit Menschen mit einer Beeinträchtigung fände ich eine wichtige Ergänzung – es gibt ganz wundervolle Ensembles, die die klassische Hochkultur mit Improvisation, aleatorischen Prozessen und nicht rein klassischen Emotionen auf der Bühne vereinen – die vermittelnde Ader des Festivals ist ja längst etabliert, das wäre dann einfach eine Art Erweiterung. Und dann habe ich damals mit der sehr ortskundigen Dolores Mark mal überlegt, ob man in der Bolgenschanze mal eine Happy Hour mit Klassik gestalten sollte …

Gab es einen besonderen Moment oder eine Begegnung beim Festival, die dich nachhaltig geprägt hat?
Privat: die Begegnung mit meinem späteren Mann Frédéric, den ich – damals selber noch Young Artist – 1999 am Tag der Sonnenfinsternis kennengelernt hatte (klingt genau so mystisch, wie es war …). Künstlerisch waren für mich die Tanztheater-Aufführungen in der Schreinerei Künzli im Dischmatal prägend: von Monteverdis Il combattimento di Tancredi e Clorinda mit einer schwebenden Wippe (Regie Mirella Weingarten) über Anna Hubers Frauenliebe und Leben mit Werken von Schumann und Ustvolskaja bis hin zum Quatuor pour la fin du temps von Messiaen in der Choreographie von Philibert Tologo aus Burkina Faso verbanden sich Bewegung, Gesang, Wort, Musik und das mit leichtem Holzstaub berieselte Publikum zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk.