Ein besonderes Jahr
Reto Bieri, Intendant 2014—2018

Was ist deine schönste Erinnerung an das Davos Festival?
Vielleicht der Moment, als Pfarrer Zinsli bei strahlendem Wetter nach einem Konzert auf dem Bahnhofsplatz mit seinem Traktor das aufspielende Ensemble Federspiel auf einem Anhänger durch Davos fuhr, begleitet von den neun Harley-Davidson-Motorrad-Solisten?
Vielleicht, als der damalige Verteidigungsminister, Bundesrat Ueli Maurer, in Begleitung von sechzig Soldaten vorbeikam, um mit dem Schweizer Armeespiel den Luftraum nicht nur für das WEF, sondern auch für unser Kammermusikfestival abzusichern? Oder als mich die HCD-Ultras nach dem Fan-Gesangs-Battle mit unserem Kammerchor unter Mitwirkung Beni Thurnheers tatsächlich fragten, ob sie auch im kommenden Jahr wieder mitsingen und Teil des Festivals sein dürften? Vielleicht, als die Tagesschau-Hauptausgabe über unsere Spielbox – den kleinsten und exklusivsten Konzertsaal Europas – berichtete und die damit verbundenen 45 Uraufführungen würdigte? Vielleicht, als sämtliche Davoser Musik- und Tanzvereine, von der Musikschule über die Musikgesellschaft bis hin zum Jodelclub und den Alphornbläsern, zusammen mit unseren jungen Künstlern John Cages Musicircus zelebrierten? Oder als wir mit einem Leichenmahl am hundert Meter langen Esstisch in Anwesenheit von Albert Einstein, Thomas Mann und Christian Morgenstern die Schatzalp verzauberten? Oder als wir Haydns Letzte Worte im Krematorium spielten? Vielleicht die berührende Uraufführung einer Wagner-Arie im Rahmen des Opernprojekts «Die Schweizer Familie»? Oder die nächtliche Aufführung bei Vollmond des sechseinhalbstündigen zweiten Streichquartetts von Morton Feldman im Kirchner Museum? Vielleicht die eine Landpartie in Davos Laret? Ein 20-Minuten-Konzert in der Bahnhofshalle, im Kaffeehaus oder im Einkaufszentrum?
Ich kann kaum sagen, welche meine schönste Erinnerung ist. Und auf eine einzige Erinnerung kann ich mich nicht festlegen: Mein Davos war zutiefst von all den Verbindungen, den Menschen und den gespielten Musiken vor Ort geprägt. All das ist nun schlichtweg «schönste Erinnerung»!

Welche besondere Herausforderung hast du während deiner Intendanz erlebt?
Nun ja, Davos ist – um es vorsichtig zu sagen – ein schwieriges Pflaster, ein schwieriger Ort für Kultur. Es gibt nicht viele Menschen in Davos, die sich wirklich für Musik, für Buchstaben und Worte, für Schönheit und Archaik, für die Luft und die Klänge und für besondere Vögel und Spinner interessieren. Aber die wenigen, die sich damit abgeben, tun dies mit einer Leidenschaft, die man selten antrifft. Ich selbst wollte immer, dass sich die Dinge vor Ort irgendwie miteinander verbinden, dass sie eine Bedeutung füreinander haben, dass die Kunst das Leben berührt und das Leben die Kunst. Das ist mein Beruf: alles aufeinander zu beziehen, sodass alles auf seine eigene Weise zu Musik wird. Das war mir wichtig. Und das bedeutet für mich Festival.
Natürlich mussten wir die Menschen vor Ort stets überzeugen, sie für unsere Ideen und Spinnereien gewinnen. Das war nicht einfach, wahrlich eine Herausforderung, aber ich machte es gerne. Es gibt in Davos viele Ignoranten und Wichtigtuer, Menschen, die lediglich auf den eigenen Profit, aufs eigene Geschäft und auf die eigene Geltung aus sind – damit dreht sich vieles im Kreis und führt dann zum Immer-Gleichen. Aber ich war froh, dass ich mit der grandiosen Anka Topp, unserer damaligen Geschäftsführerin, mit Matthias von Orelli, dem wunderbaren Präsidenten, mit Toni Krein, aber auch mit Torsten Sadowski vom Kirchner Museum und Florian Kamnik, dem Klavierbauer, und einem interessierten Stiftungsrat rechnen konnte, dass ich solche Menschen an meiner Seite hatte, die mich tatkräftig unterstützten. Nur zusammen konnten wir in Davos etwas bewirken. Auch das heisst Festival: zusammen träumen, zusammen essen, zusammen sein, zusammen wirken. Unmöglichkeiten sind letztlich die schönsten Möglichkeiten.


Wie siehst du die Zukunft des Davos Festivals und welche Entwicklungen würdest du dir wünschen?
Die Zukunft des Davos Festivals, so wie alles, was von Menschen gemacht wird, liegt in der Vergänglichkeit. Vielleicht ist es nicht das Festival selbst, das in der Zukunft zählt, sondern die Art, wie die Menschen vor Ort es immer wieder und Jahr für Jahr angehen, wie wir zusammen die Dinge gestalten und uns dann an Momente erinnern – an die Musik, die Menschen, die Landschaft. Die Musik wird nicht die Antwort auf alle Fragen sein, aber sie wird immer ein Teil der Antwort bleiben. Vielleicht sollte das Festival in der Zukunft weniger darauf bedacht sein, etwas zu werden, sondern viel mehr darauf, was es im Moment ist: ein Raum in Davos, der uns für eine Weile innehalten lässt, Menschen vor Ort miteinander verbindet und uns die Möglichkeit gibt, durch Musik, ja durch den Zauber der Musik über das nachzudenken, was wir sind. Wir sind aus dem Stoff der Träume, sagt Shakespeare – und es sind die kleinen, leisen Träume, die am meisten zählen, davon bin ich überzeugt. Wir müssen hinüberträumen … hinüberträumen ins Andere. Viele Alternativen dazu sehe ich nicht. Ein Festival, das genau dies einlöst, könnte die Zukunft sein.

Gab es einen besonderen Moment oder eine Begegnung beim Festival, die dich nachhaltig geprägt hat?
Es war 2017, zweite Festivalwoche. Ich verlor kurz den Durchblick – im wahrsten Sinne des Wortes – und musste nach Zürich, um mich dort im Universitätsspital notfallmässig von Prof. D. Barthelmes an der Augennetzhaut operieren zu lassen. Als ich später zurückkam, meinte Ruth Gattiker, die mit ihren 94 Jahren bei jeder Musikwanderung immer mit Rucksack, Cervelas, einem Stück Brot und einem Fendant dabei war und als legendäre Anästhesistin zu den absolut treusten und originellsten Davos Festival-Gästen gehörte:
«Easy peasy. Es lief alles wunderbar, das Festival kam auch ohne dich zurecht.» Da war mir ruckartig klar: die Welt dreht sich – auch ohne mich.