Zeit oder der Takt von Ereignissen

Von Norman Sieroka

Obwohl es «die Zeit» nicht gibt, ordnet sich alles, was wir erleben, zeitlich. Was wir tun, was uns zustösst, was andere tun, was uns berichtet wird, was in der Natur vor sich geht … all das ereignet sich, und all das kann zeitlich geordnet werden.

Eine Sturmflut zu erleben ist sehr verschieden von der Erinnerung an ein Kammerkonzert; eine berufliche Herausforderung, die jemandem beispielsweise in der Dienstbesprechung begegnet, unterscheidet sich von einer Begegnung mit einem Wildschwein beim Waldspaziergang; und all diese Beispiele unterscheiden sich wiederum von der Sorge um den nächsten Wahlausgang und vielem anderen. Doch zumindest ein zentrales Charakteristikum teilen sämtliche solche Erlebnisse: Sie sind Ereignisse und lassen sich zeitlich ordnen. So mag sich die Begegnung mit dem Wildschwein später ereignet haben als die Sturmflut – aber früher als mein Gang zum Wahllokal, während dem ich mich (gleichzeitig) an das Kammerkonzert erinnerte.

Wenn ich behaupte, es gebe «die Zeit» nicht, so meine ich damit, dass Zeit kein eigenständiger Bestandteil der Wirklichkeit ist. Zeit ist nichts Substanzielles, sondern ein unselbstständiger Teil von Ereignissen und mithin von Erlebnissen und Erfahrungen. «Unselbstständig» bedeutet hier, dass es sich um einen Teil handelt, der nicht für sich allein existieren kann, ohne den aber auch das Ganze nicht existieren kann. Die Kappe eines Füllers ist in diesem Sinne gerade kein unselbstständiger, sondern ein selbstständiger Teil des Füllers. Anders verhält es sich etwa mit der Tonhöhe eines Tons: Eine Tonhöhe allein – ohne Lautheit, Klangfarbe, Dauer – kann es nicht geben; und einen Ton ohne Tonhöhe auch nicht. Analog verhält es sich mit unseren Erlebnissen und Ereignissen, die eben immer eine zeitliche Dimension besitzen.

Wegen dieser Unselbstständigkeit beziehen sich zeitliche Einordnungen immer auf Verhältnisse zwischen Ereignissen: so etwa bei der Frage nach dem Früher oder Später bei Sturmflut und Waldspaziergang. Aber auch die Antwort beispielsweise darauf, ob eine Reise schnell oder langsam, lang- oder kurzweilig war, hängt vom Vergleich mit anderen Ereignissen – und insbesondere anderen Reisen – ab.

Das Etablieren von Rhythmen dient der gemeinsamen Orientierung — sei es in der Musik, der Politik, der Religion, dem Sport oder weiteren Bereichen der menschlichen Kultur.

Auch machen diese Beispiele deutlich, dass zeitliche Zusammenhänge nicht etwas «bloss Subjektives» sind, das einem «wahren Objektiven» gegenüberstünde. Wenn hier von den Verhältnissen zwischen Ereignissen die Rede ist, so bezieht sich das auf ein individuelles Zeiterleben ebenso wie auf die sogenannte physikalische Zeit, die wir mit Uhren messen, ebenso auf gesellschaftliche Zeitvorstellungen.

Doch wie lassen sich all diese Zusammenhänge, wie sie die verschiedensten Bereiche der Wirklichkeit und des täglichen Lebens prägen, in ihrer allgemeinen Struktur besser verstehen? Hier können Hören und Musik eine Modellfunktion übernehmen, an der sich vieles exemplarisch aufzeigen lässt. Das liegt unter anderem daran, dass Gehörtes – und also insbesondere Musik – immer einen transienten Charakter hat. Das, was man hört, erstreckt sich und vergeht; es ist schwer greifbar und verfliegt. Demgegenüber ist das, was wir sehen, in der Regel oder zumindest häufig räumlich klar verortet und stabil. Anders formuliert: Der zeitliche Charakter eines Tons, den wir hören, tritt typischerweise prominenter hervor als der zeitliche Charakter einer Tasse, die wir vor uns sehen. Das Hören hat immer etwas Vorübergehendes und Prozesshaftes an sich, das Sehen im mutmasslichen Gegensatz dazu etwas geradezu Konstatierendes.

Das Besondere an Musik- und Hörerfahrungen ist auch, dass sie zeitliche Orientierungen und zeitliche Ordnungen sehr allgemein und teilweise auch sprach- und kulturübergreifend erlebbar und zugänglich machen. Die Frage nach den Verhältnissen und Abfolgen von Ereignissen wird zur allgemeinen Frage nach Takt(ung) und Rhythmus.

Noch besser – und ebenfalls musikalisch motiviert – könnte man von Variationen von Ereignissen sprechen. Denn die Variationen (eines musikalischen Themas) basieren auf einem Zusammenspiel von akustischen Wiederholungen und Veränderungen; und Wiederholungen und Neuerungen sind genau das, was auch Zeit grundlegend charakterisiert. So sind Ereignisse, die variieren, sich also in jeweils (leicht) geänderter Form wiederholen, menschheitsgeschichtlich seit jeher sehr bedeutsam. Seit Urzeiten ist der Mensch im Alltag von stabilen Wiederholungsmustern abhängig, um sich zurechtzufinden. Als natürliche Wesen sind wir unter anderem den Gezeiten und den Zyklen von Tier- und Pflanzenbeständen ausgesetzt. Frühe Hochkulturen orientierten sich nicht nur an den Rhythmen der Natur hier auf der Erde, sondern vor allem auch an denjenigen der Gestirne. Denn diese muten besonders stabil an und schienen zudem geeignet für Rückschlüsse auf irdische Verhältnisse.

Aber nicht nur natürliche Rhythmen sind für uns relevant. Viele weitere Ordnungen unseres Alltags sind vor allem kulturell geprägt und getaktet – wie etwa das Kammerkonzert, bei dem nicht nur die Musik selbst getaktet ist, sondern auch die Strassenbahn, die uns im Zehn-Minuten-Takt zum Konzerthaus bringen mag. Rhythmen und Taktungen gibt es selbst dann, wenn wir im berühmten stillen Kämmerlein sitzen und vor der Welt unsere Augen verschliessen. Denn auch dann nehmen wir innerlich wahr, stellen uns beispielsweise etwas vor oder erinnern uns an etwas.

Ohne eine Strukturierung in Form von Taktungen oder Rhythmen würden wir orientierungslos durchs Leben stolpern. Alles wäre immer anders, chaotisch und also unberechenbar. Erkennen wir aber Ereignisse als Variationen, so können wir uns, ganz allgemein gesprochen, deren Rhythmus anpassen und ihn uns zunutze machen. Nur so werden konkrete Vorhersagen weiterer Ereignisse möglich, und damit auch erfolgreiches Handeln. Nur so erreiche ich beispielsweise die Strassenbahn, um rechtzeitig beim Konzert zu sein; und nur so bringe ich meine Handlungen in eine sinnvolle Abfolge, sodass ich mich beispielsweise jeweils vor und nicht nach dem Anziehen dusche. Es ist also der Takt, die Taktung von Ereignissen, die zu erfolgreichen Handlungen und allgemeiner zu einem guten – um nicht zu sagen: intakten – Leben führen.

Aber nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für eine Gemeinschaft ist ein bestimmtes Mass des Im-Takt-Seins und -Bleibens nötig, um sinnstiftende Strukturen zu etablieren und zu halten. Gemeinsames Musizieren kann hier wieder als Ausgangs- und Paradebeispiel dienen, um sich allgemeine Grundstrukturen zu verdeutlichen. Denn beispielsweise gründet auch eine Demokratie darauf, dass regelmässig Wahlen stattfinden, und Rechtssicherheit basiert auf der begründeten Erwartung, dass beim nächsten Fall nicht willkürlich oder «einfach mal ganz anders» entschieden wird. Überhaupt können Wiederholungen, die in einem bestimmten Takt erfolgen, zu neuen Qualitäten oder Bedeutungen führen. Auch hier denke man nicht nur an die Musik, sondern ganz allgemein an Rituale, die sich vom allmorgendlich frisch aufgebrühten Tee oder Kaffee bis hin zu internationalen oder religiösen Gedenktagen erstrecken mögen.

Seit Urzeiten ist der Mensch im Alltag von stabilen Wiederholungsmustern abhängig, um sich zurechtzufinden. Als natürliche Wesen sind wir unter anderem den Gezeiten und den Zyklen von Tier- und Pflanzenbeständen ausgesetzt.

Das Etablieren von Rhythmen dient der gemeinsamen Orientierung – sei es in der Musik, der Politik, der Religion, dem Sport oder weiteren Bereichen der menschlichen Kultur. Und eine Kulturfertigkeit hängt selbstredend in besonderem Masse von der Etablierung von Rhythmen ab: nämlich der Uhrenbau und überhaupt das gesamte Kalenderwesen. Umgekehrt dienen gerade Kalender und Uhrzeit dazu, das Miteinander zu synchronisieren und sind somit zentrales Element der Gemeinschaftsstiftung. Dank uhrzeitlicher Terminierung gelingt es, gemeinsam identitätsstiftende Feste zu begehen oder auch erfolgreich Handel zu betreiben.

Zeitliche Rhythmen und insbesondere Kalender und Uhrzeiten können aber auch zum Instrument politischer Manipulation werden, wenn es um eine mutwillige Veränderung der Identität einer Gemeinschaft geht. Denn mit der Umstellung von Kalender und Uhrzeit werden immer auch ganze Vergangenheiten und gemeinsame Erlebenskontexte marginalisiert. So haben beispielsweise militärische Besatzungsmächte immer wieder lokale Zeitangaben verboten und ihre Uhrzeit in fernen Gebieten installiert, um so den Bezug zum neuen Machtzentrum omnipräsent zu machen.

Auch nach der Französischen Revolution gab es eine Kalenderreform, bei der unter anderem die Sieben- durch eine Zehntagewoche ersetzt werden sollte, um so dem Ancien Régime eine Modernisierung und einen klaren Bruch entgegenzusetzen. Doch bemerkenswerterweise konnte sich die Zehntagewoche längerfristig nicht durchsetzen. Vermutlich fehlte schlicht eine klare Assoziation zwischen Ancien Régime und Siebentagewoche. Denn letztere ist ja kein spezifisches Resultat des französischen Absolutismus, sondern basiert auf geteilten astronomischen Vorstellungen diverser Kulturen und war bereits mehrere Jahrtausende alt. Die lang gelebte Praxis stach in diesem Fall also eine politische Anordnung aus. Gleichermassen konnte sich auch die Einteilung eines Tages in zehn Dezimalstunden, die ihrerseits jeweils aus hundert Dezimalminuten bestehen, nicht durchsetzen. Dies verdeutlicht den grundlegenden Charakter und auch die Trägheit gerade von Zeitvorstellungen und -einteilungen. Denn beispielsweise bei Einheiten der Masse und des Raumes gab es vielerorts erfolgreiche Überführungen in Dezimalsysteme: Elle und Fuss wurden in Meter überführt, Pfund und Unzen in Gramm. Aber die sieben Wochentage mit ihren jeweils vierundzwanzig Stunden sind geblieben.

Auch wenn es also «die Zeit» nicht gibt: Es gibt Ereignisse, die (einander) variieren und in deren Takt wir in einigen Fällen eingreifen können – und das nicht nur in der Musik.


Dieser Artikel ist eine umgearbeitete und gekürzte Fassung des Einleitungskapitels der Monografie Zeit-Hören: Erfahrungen, Taktungen, Musik (Berlin 2024), frei zugänglich (inkl. Playlist mit zahlreichen Hörbeispielen) und aufrufbar auf degruyter.com.

Der Autor: Norman Sieroka hat einen Doktortitel in Philosophie und Physik. Seit seinem Studium in Heidelberg und Cambridge holt ihn die Zeit immer wieder thematisch ein: einerseits in interdisziplinären Zusammenhängen, andererseits aber auch im Bezug zum Hören und zur Musik. Er ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Bremen und ausserdem Privatdozent an der ETH Zürich. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören die Einführungsbände «Philosophie der Zeit» und «Philosophie der Physik».