Zeitlos oder wie man sinnvoll aus der Zeit fällt

Von Norman Sieroka

Den Kalauer, beim Thema Zeit handle es sich um ein zeitloses Thema, erspare ich uns an dieser Stelle. Allerdings scheint das Thema Zeit tatsächlich immer von Interesse zu sein. Es durchlebt vielleicht kleinere Konjunkturen, ist aber nie ganz vom Tisch. Auch wenn der Spruch «Alles hat seine Zeit» auf vieles zutreffen mag, auf die Zeit selbst trifft er jedenfalls nicht zu.

Vielleicht sollten wir auch, statt abstrakt von «der Zeit» zu sprechen, lieber mit unserem konkreten Erleben beginnen. Denn das ist zweifellos immer zeitlich – und ganz wesentlich mit Wiederholung und mit Veränderung verbunden. Das Erleben von Zeit hat einerseits mit so etwas zu tun wie Tages- oder Jahreszeiten, die wiederkehren, andererseits aber auch mit Veränderungen wie Wachstums- und Alterungsprozessen. Und was wir im Alltag besonders schätzen, ist die ausgewogene Mischung aus beidem. Denn zu viel Veränderung führt zu einem Orientierungsverlust, und reine Wiederholung ist langweilig, führt zu Ermüdung. Doch wie genau sieht es nun mit einer solch ausgewogenen Mischung aus? Und vor allem: Was hat das mit dem Thema dieses Festivals, der Zeitlosigkeit, zu tun? Wir werden uns diesen Fragen schrittweise nähern, wobei uns der Weg direkt zur Musik führen wird. Denn die Musik bietet einen geradezu exemplarischen Kontext für vielerlei zeitliche wie auch zeitlose Erfahrungen.

Kommen wir also zurück zum Erleben von Zeit und dazu, dass Zeit selbst nichts Gegenständliches ist. Insbesondere ist sie nichts, das man sammeln oder anhäufen könnte. Was es gibt, sind Ereignisse, die neben- und nacheinander ablaufen, die zueinander getaktet sind: Ladenöffnungszeiten, Bahnfahrpläne, Konzertveranstaltungen, usw. Das ermöglicht uns ein geordnetes Leben, in dem wir erfolgreich handeln: Ich stehe nicht vor einer verschlossenen Ladentür, bin rechtzeitig beim Konzert. Worauf wir mit dem Wort Zeit und mit Zeitangaben verweisen, sind letztlich Verhältnisse oder Taktungen zwischen Ereignissen: Wenn wir etwa eine Uhr benutzen, so ordnen wir die physikalischen Ereignisse im Uhrwerk einem anderen Ereignis zu und kommen dadurch zu der Feststellung, das Konzert habe beispielsweise hundertzwanzig Minuten gedauert.

Um das Phänomen der Zeitlosigkeit besser zu verstehen, müssen wir also herausfinden, was es bedeuten könnte, sich von solchen Verhältnissen oder Taktungen zu lösen. Denn damit, so scheint es, wäre man in mancherlei Hinsicht wohl «die Zeit los».
Es gibt eine prominente Redeweise, die genau ein solches Loslösen von der Zeit ausdrückt: Wir bezeichnen jemanden als «aus der Zeit gefallen», wenn sie oder er sich in prägnanter Weise den gegenwärtig üblichen Taktungen in einem bestimmten Kontext entzieht. Genauer geht es meist darum, dass jemand inzwischen unüblich gewordene Taktungen weiterhin hochhält: also etwa heute noch Briefe schreibt, statt Messenger-Dienste zu verwenden, oder heute noch Kassetten hört, statt auf Streaming-Dienste – oder doch zumindest auf CDs – zurückzugreifen. Darüber hinaus gibt es aber auch Fälle – wie etwa aktuell bei der Schallplatte aus Vinyl –, wo etwas wieder in Mode kommt und jemand, der bis vor Kurzem noch als aus der Zeit gefallen galt, nun als «Trendsetter» bezeichnet wird. Doch das ist ein anderes Thema.

Es gibt eine prominente Redeweise, die genau ein solches Loslösen von der Zeit ausdrückt: Wir bezeichnen jemanden als «aus der Zeit gefallen», wenn sie oder er sich in prägnanter Weise den gegenwärtig üblichen Taktungen in einem bestimmten Kontext entzieht.

Aus der Zeit zu fallen bedeutet also, in der einen oder anderen Form nicht dem üblichen Takt der eigenen Umgebung zu folgen. Typischerweise, so auch im Fall des Briefeschreibens, geht das damit einher, bei bestimmten Kommunikations- und Austauschformen anderer nicht Schritt halten zu können oder zu wollen. Dabei scheint es eine graduelle Frage zu sein, inwiefern «nicht im Takt» hier auch so etwas wie «nicht intakt» bedeutet: Handelt es sich um eine blosse Eigenheit? Oder hat die Person in so vielerlei Weise den – um mal mit der ursprünglichen Wortbedeutung zu spielen – «Kon-takt», also den gemeinsamen Takt, verloren, sodass uns dieser Mensch insgesamt als «ver-rückt» erscheint?

Wichtig bei der Frage, ob es sich um eine blosse Eigenheit oder doch eher um etwas Pathologisches handelt, ist die Fähigkeit, aus eigenen Kräften diesen Kontakt zu wahren und gegebenenfalls in die gemeinsamen Taktungen zurückzufinden. Um es plakativ auszudrücken: Solange unsere Briefliebhaberin in dringenden Fällen durchaus auch mal zum Telefon statt zum Füller greift, scheint alles in Ordnung.

Mehr noch: Ein solches Loslösen von der Zeit im Sinne gemeinsamer Taktungen kann etwas nach aussen wie nach innen sehr Sympathisches haben. Die Schreiberin hat sich etwas Persönliches bewahrt – und auch derjenige, der von ihr mit einem Brief bedacht wird, hat an dieser Besonderheit teil. Er selbst mag sich für Briefe begeistern oder nicht, aber dass dieser Brief von ihr kommt, ist eben typisch für sie.

Damit sind wir bereits beim Wert dieser Art von Zeitlosigkeit: Das selbstgewählte Hinaustreten aus einer Ordnung, das immer auch das zeitliche Hinaustreten aus einer bestimmten Taktung ist, geht üblicherweise mit dem Empfinden von Autonomie einher. Und das wird auch deshalb als positiv erfahren, weil es sozusagen einer existenziellen Ermüdung vorbeugt. Es wird eben etwas Eigenes gewahrt, statt es immer nur allen anderen gleichzutun. Allerdings sollte dieses Eigene weiterhin nachvollziehbar bleiben. So ist es idealerweise aus ihren Erfahrungen und ihrer Lebensgeschichte heraus plausibel, warum gerade diese Person weiterhin Briefe schreibt. Es handelt sich nicht um einen völlig zusammenhanglosen Aktionismus, sondern scheint auf seine Weise sinnvoll.
Damit komme ich endlich zur Musik, die im Kontext der Erfahrung von Zeitlosigkeit und zeitlicher Autonomie geradezu als Paradebeispiel dienen kann. Ein besonders markantes Beispiel des Aus-der-Zeit-Fallens ist die Improvisation im Jazz. Hier verlässt jemand in gewissen Grenzen und für eine beschränkte Dauer gemeinsame Taktungen. Dabei sind die Taktungen hier ganz breit zu verstehen, denn neben Rhythmik sind auch Tonhöhen und Klangfarben nichts anderes als Taktungen im Sinne zeitlicher Regularitäten von Schallwellen. Von daher ist der Begriff der Im-pro-visation, des Nichtvorhersehbaren, eigentlich irreführend. Viel schöner ist der alte Ausdruck des Ex-temporierens, auch wenn dieser – statt für Musik – üblicherweise für Reden und insbesondere Predigten verwendet wird. Dem Wortsinne nach bezeichnet er aber genau das Hinaustreten aus einer Zeitordnung.

Wichtig beim Extemporieren beziehungsweise Improvisieren ist dessen begrenzte Dauer und die anhaltende Möglichkeit des Wiedereintretens in das gemeinsame Spiel. Wer ein Solo spielt, sollte eben nicht vollständig und permanent entrücken und damit gleichsam ver-rückt erscheinen. Ohne anknüpfende Wiederholung geht es auch bei der Improvisation nicht: Auch hier bedarf es der ausgewogenen Kombination aus Wiederholung als gemeinsamer Taktung, die den Anschluss an die anderen nicht aufgibt, und eben der eigenen Impulse, die gleichsam neu, aber immer auch plausibel und sinnvoll ertönen.

Dieses Schaffen eigener Impulse geht erneut mit Autonomieerfahrungen einher und führt, wie schon im Fall der Briefschreiberin, dazu, dass wir jemandem etwas als individuell und typisch zuschreiben. Man könnte – gerade im Kontext der Musik, aber auch in einem sehr viel breiteren Sinne – von einer eigenen Stimme sprechen, die durch diese Impulse und individuellen Besonderheiten zum Ausdruck kommt. So erkennt man, gerade im Jazz, viele solcher eigenen Stimmen bereits nach wenigen Klängen, die sie auf ihrem Instrument spielen oder singen. Aber es gibt solche Stimmen selbstredend auch in Bereichen der komponierten Musik. Auch Opernsängerinnen und klassische Pianisten mag man in diesem Sinne sehr schnell an ihrer individuellen Stimme erkennen.

Bemerkenswert ist, dass und wie solch individuelle Besonderheiten immer mit Taktungen zu tun haben, bei denen teilweise einem gemeinsamen Muster gefolgt wird, dieses aber teilweise und begrenzt überschritten oder individuell ausgedeutet wird. Falls dies derart nachhaltig gelingt, dass immer wieder Menschen diese Stimme erkennen und als besonderen Ausdruck von etwas empfinden, sprechen wir sogar wörtlich von einem «zeitlosen Solo» oder einer «zeitlosen Interpretation».

Dennoch ist diese Form von Zeitlosigkeit keine vollständige. Sie lebt vom Wechselspiel aus individueller Autonomie und dem Kontakt mit den anderen. Die jeweilige Umgebung wird nie vollständig und nicht auf Dauer verlassen. Tatsächlich würden wir ein solch dauerhaftes und vollständiges Verlassen wohl am ehesten mit dem Begriff «Ewigkeit» umschreiben, wobei aber unklar bleibt, inwiefern das innerhalb eines menschlichen Lebens erreichbar ist. Selbst Erleuchtungserlebnisse und bestimmte meditative Zustände – die von denen, die sie erleben, als Erfahrung von Unendlichkeit oder Ewigkeit beschrieben werden – betten sich ja in ein hiesiges endliches Leben ein.

Ob in der Mantra-Meditation oder in den Meditationen und Chorälen der christlichen Tradition: Hier wird bewusst das Element der Veränderung oder des Neuen klein gehalten, und die möglichst identische Wiederholung soll das Erleben von Ewigkeit im Sinne einer Unveränderlichkeit fördern.

Auch ist bezeichnend, welche Rolle gerade die Wiederholung für das Erreichen solcher vermeintlichen Ewigkeits-Zustände spielt. Ob in der Mantra-Meditation oder in den Meditationen und Chorälen der christlichen Tradition: Hier wird bewusst das Element der Veränderung oder des Neuen klein gehalten, und die möglichst identische Wiederholung soll das Erleben von Ewigkeit im Sinne einer Unveränderlichkeit fördern. Doch auch hier gilt: Das Erleben selbst bleibt von begrenzter Dauer. Und das ist auch gut so! Denn ein Leben, das tatsächlich ewig währte, schiene keineswegs erstrebenswert. Vielmehr ginge es mit dem Verlust sämtlicher Werte einher: Alles, was heute getan werden könnte, könnte es auch morgen oder übermorgen oder in drei Jahren. Es gäbe somit keinen Grund mehr, heute oder morgen oder übermorgen auch nur irgendetwas zu tun.

Das Phänomen der Zeitlosigkeit mag also, von innen betrachtet, manchmal und kurzzeitig mit einem Gefühl von Ewigkeit verbunden sein. Mit breiterer Bedeutung, gerade in Kontexten der Gemeinschaft und des alltäglichen Lebens, tritt das Phänomen der Zeitlosigkeit aber vor allem in der Form des Extemporierens hervor: also in der Form des Loslösens von der Zeit im Sinne eines geordneten und vorübergehenden Aussteigens aus einzelnen Aspekten unserer vielfältigen gemeinsamen Taktungen – egal, ob beim Musizieren, Briefeschreiben oder wo auch immer.
Damit lautet der abschliessende positive Befund: Wir können uns immer wieder von Zeiten beziehungsweise Taktungen lösen – nicht beliebig lang, nicht beliebig stark, aber doch so, dass sich ein besonderes Gefühl von Autonomie und damit auch Momente eines geglückten Lebens einstellen mögen. Die Musik kennt das in herausragender Weise: Die improvisierte Musik verdankt ihr ihren Namen, aber auch die auskomponierte Musik ist voller eigener Stimmen.

Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die erfolgreiche Gratwanderung zwischen ermüdender Wiederholung und ver-rücktem Immer-alles-anders-Machen. Übrigens: Die klassische Tugend, die genau eine solch ausgewogene Mischung oder harmonische Kombination befördert, ist die Mässigung: Temperantia. Ihr Name enthält nicht nur wörtlich die Zeit (tempus) und erinnert an das Wohl-Temperierte in der Musik, sondern verweist zugleich auch darauf, dass das exakte Verhältnis von Wiederholung und Veränderung, das jeder einzelne von uns in der Musik und im Alltag als angenehm empfindet, eine Frage des Temperaments ist.


Der Autor: Norman Sieroka hat einen Doktortitel in Philosophie und Physik. Seit seinem Studium in Heidelberg und Cambridge holt ihn die Zeit immer wieder thematisch ein: einerseits in interdisziplinären Zusammenhängen, andererseits aber auch im Bezug zum Hören und zur Musik. Er ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Bremen und ausserdem Privatdozent an der ETH Zürich. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören die Einführungsbände «Philosophie der Zeit» und «Philosophie der Physik».