«Der Mut kommt in Wellen»

Die junge Cellistin Milena Marena ist seit der Saison 2025/26 Solistin beim Musikkollegium Winterthur. Daneben bespielt sie allein oder als Kammermusikerin die Schweiz. Ein Gespräch über die eigene Interpretation, Social Media und Büroklammern.

von Anna-Barbara Winzeler

Milena Marena, wann waren Sie zuletzt mutig?
Vor einigen Wochen, bei meinem ersten Konzert als Solistin in Winterthur. Wir haben Rossinis «Wilhelm Tell» gespielt, und das beginnt mit einem Cellosolo. Meine erste Aktion an der neuen Stelle war also, ganz alleine zu spielen, während alle anderen Instrumente schweigen. Die Kombination aus dem Beginn des Probejahres und der neuen Stelle – alles ist noch frisch und neu, man weiss noch nicht, was die anderen von einem halten – brauchte auf jeden Fall Mut. Man muss oft mutig sein als Musiker*in – auch abseits der grossen Soli.

Wie bereiten Sie sich auf so einen Auftritt vor, bei dem Sie genau wissen: Das braucht jetzt Mut?
95 Prozent meiner Strategie sind seriöse Vorbereitung. Das heisst auch: Früh genug die Schwierigkeiten analysieren. Das geht natürlich einfacher mit zunehmender Erfahrung.

Und die restlichen fünf Prozent?
Visualisierung: Ich nehme mir Zeit, schliesse die Augen und stelle mir die Situation so genau vor, wie ich kann: den Saal und die Leute, die vielleicht da sein werden, und natürlich auch mich, wie ich dort sein werde, mit all meinen Gefühlen, die ich dann haben werde. So wird der Auftritt selbst zu einer Routine: Ich bin nicht das erste Mal dort.

«Musikalischer Mut bedeutet für mich, zu der eigenen musikalischen Interpretation zu stehen. In der heutigen Zeit haben wir so viele Inputs zur Aufführungspraxis und damit auch zur «richtigen Art», ein Stück zu spielen, dass es sehr einfach ist, sich darin zu verlieren.»

Was ich manchmal auch noch ergänzend mache, ist Vorspieltraining. Das funktioniert natürlich am besten, wenn man Leute findet, die einen beim Spielen ein wenig nervös machen. Diese technische und musikalische Vorbereitung, kombiniert mit dem Gedanken, den Auftritt schon einmal erlebt zu haben – zumindest im Kopf –, hilft mir sehr. So bin ich beim Auftritt selbst nicht das erste Mal in diesem Ausnahmezustand, sondern vielleicht schon das dritte oder vierte Mal. Und dann klickt es meistens von selbst, auch wenn ich sehr nervös sein sollte: Ach ja, ich kann das ja eigentlich.

Vor wem braucht das Vorspielen denn mehr Mut? Vor professionellen Musiker*innen oder vor den eigenen Freund*innen?
Definitiv vor professionellen Kolleg*innen. Aber ich habe das grosse Glück, dass ich hier nicht oft trennen muss; viele meiner Freund*innen sind selbst Musiker*innen, unsere Szene ist sehr klein. Und ich komme auch aus einer sehr musikalischen Familie. Meine Mutter ist ebenfalls professionelle Cellistin, sie sieht und hört natürlich alles, wenn ich ihr vorspiele. Sie und mein Vater kennen mich auch sehr gut, nicht nur wie ich spiele, sondern auch, wie ich bin. Ihnen vorzuspielen, ist also ein sehr gutes Auftrittstraining.

Braucht es Mut, den eigenen Eltern vorzuspielen, wenn diese einen so gut kennen?
Ja, immer! Ich glaube, das braucht grundsätzlich Überwindung, nicht nur bei den eigenen Eltern, wenn man auf jemanden zugeht und fragt: Kannst Du mir bitte deine Zeit und Expertise schenken? Aber es ist eine Überwindung, an die man sich gewöhnt.

Spielen Ihnen auch Kolleg*innen ihrerseits vor?
Das kommt vor, ja, und ich freue mich auch immer, wenn ich gefragt werde. Zu Studienzeiten war es häufig so, dass man sich beispielsweise vor Probespielen gegenseitig vorgespielt hat. Ich finde das eine gute Sache, weil beide Vorspieler*innen in der gleichen Situation sind, und man so auch noch einmal einen ganz anderen Blick – oder besser noch, ein anderes Ohr – für den Auftritt bekommt. Oder aber man bekommt einen neuen Einblick in eine Situation, die man selbst noch nicht hatte.

Was war das Letzte, was Sie gemacht haben, was Sie zuvor noch nie gemacht haben?
Ich habe gerade ein Stück eingeübt, bei dem ich eine Büroklammer an eine Saite geklippt habe, und das hat dann ein sehr cooles Gong-Geräusch ausgelöst. Das habe ich noch nie probiert, und es ist für mich auch immer wieder ein Aha-Moment, wenn ich ganz neue Erfahrungen mit meinem Instrument machen kann.

Welche Teile Ihres aktuellen Programmes brauchen besonders viel Mut?
Ich übe gerade eine Reihe sehr heikler Stücke von Eugène Ysaÿe, die ich für das Aufnahmeverfahren eines internationalen Wettbewerbs vorbereite, bei dem ich gerne teilnehmen möchte. Hier operiere ich als Solistin völlig alleine mit schwierigen Akkorden, Doppelgriffen und sehr unbequemen Höhen.

«Man muss oft mutig sein als Musiker*in – auch abseits der grossen Soli.»

Gibt es Musikarten, die mehr Mut brauchen?
Es ist vielleicht paradox, aber: Ich habe bereits hochexperimentelle, zeitgenössische Musik gespielt, die um einiges weniger heikel war als beispielsweise Haydns 2. Cellokonzert in D-Dur. Bei diesen grossen Werken hört jeder und jede sofort, wenn es auch nur einen schiefen Ton darin hat oder ein Zögern in einem Einsatz ist, weil man darin viel exponierter ist. Das braucht für mich sehr viel Mut.

Was würden Sie als musikalischen Mut beschreiben?
Musikalischer Mut bedeutet für mich, zu der eigenen musikalischen Interpretation zu stehen. In der heutigen Zeit haben wir so viele Inputs zur Aufführungspraxis und damit auch zur «richtigen Art», ein Stück zu spielen, dass es sehr einfach ist, sich darin zu verlieren. Und daneben gibt es auch Moden, die sich ständig verändern und immer auf persönlicher Meinung basieren. Hier eine eigene Haltung zu entwickeln und diese auch entschlossen zu vertreten, finde ich mutig – auf eine gute Art. Ich finde aber, man darf eine gewisse Authentizität nicht verlieren. Man muss intuitiv das, was man alles lernt, mit dem eigenen Bauchgefühl verbinden.

Ist Social Media für diese Entwicklung hilfreich?
Ja und nein. Sobald man etwas veröffentlicht, wird es einem ganz anderen, möglicherweise viel grösseren Publikum zugänglich als noch vor zwanzig Jahren. Da muss man auf vielen Ebenen zu seiner eigenen Interpretation stehen. Jedes Mal, wenn ich ein Video teile, denke ich mir schon: Was, wenn das jetzt jemand sieht, der oder die mehr Ahnung von Aufführungspraxis von genau diesem Stil hat als ich? Was, wenn ich hier einen Fehler gemacht habe?

Ist Social Media wichtig für Sie?
Auf jeden Fall, heute kommt man als Freelance-Künstler*in nicht mehr darum herum, vor allem, wenn man wie ich noch im Aufbau ist. Aber das bedeutet nicht, dass es ein einfacher Teil meiner Arbeit ist. Bei jedem Post brauche ich Mut, um zu sagen: «That’s me. Whether you like it or not.»

Was kann Mut machen in solchen Momenten?
Die Realisation, dass man als Künstler*in niemals allen gefallen wird. Es ist unmöglich, alles richtig zu machen. Und: Ich begegne oft anderen Performances, die mich dann wieder bereichern. Diese Diversität und Individualität begeistern mich.

Verlieren Sie manchmal den Mut?
Nie komplett. Ich wollte zwar noch nie nicht mehr Musikerin sein. Aber: Ja, es gibt Phasen, in denen ich wenig Mut habe. Manchmal investiert und arbeitet man sehr viel und bekommt im ersten Moment sehr wenig für den Aufwand. Man muss damit umgehen können, dass die Resultate dafür manchmal erst Wochen oder Monate später kommen. Dafür erhält man manchmal unglaubliche Momente zu Zeiten, bei denen man gar nicht damit gerechnet hat. Es zeigt sich: Der Mut kommt in Wellen. Manchmal realisiere ich auch erst nach einiger Zeit, dass sich Knöpfe oder Probleme aufgelöst haben: Die harten Monate haben sich ausgezahlt. Und es hilft manchmal auch, sich auf besondere Momente zu freuen.

Beispielsweise auf das Davos Festival?
Auf jeden Fall. Festivals sind eines meiner Lieblingsengagements, weil man dort immer die besten Leute trifft. Einen Pool von Gleichgesinnten, sozusagen. Ganz besonders am Davos Festival ist ja auch, dass alle etwa gleich alt sein werden wie ich. Das macht es auch noch einmal spannend, weil man sich auf ähnlichen Orten und Wegen befindet.

Wohin führt Ihr Weg?
Ich hoffe, zu noch vielen weiteren musikalischen Momenten als Freelancerin und weiter als Solistin in Winterthur oder anderswo.


Anna-Barbara Winzeler ist Journalistin und Musikerin. Nach einem MAZ-Diplomstudium in der Sparte Online besuchte sie das Bachelorstudium der HSLU Musik mit den Hauptfächern Gesang und Chorleitung. Derzeit studiert sie im Master Schulmusik II in Luzern.