Von Viviane Nora Brodmann
«Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen», forderte bereits 1784 der Philosoph Immanuel Kant. Dieser Appell, selbst zu denken und für eigene Überzeugungen einzustehen, trifft bis heute jenen Nerv in der Gesellschaft, der zu unzähligen Fortschritten geführt hat – im Kleinen wie im Grossen. Der Ursprung lag und liegt dabei immer beim Individuum.
Mut – ein stetiger Begleiter
Zahlreiche Figuren der Musikgeschichte bewiesen Willensstärke, Wagemut und Durchhaltevermögen. Dank ihnen verfügen wir heute über ein enormes Repertoire an Kompositionen und eindrücklichen Geschichten, die sich um diese Werke ranken. Eines der ältesten Beispiele ist wohl Hildegard von Bingen. Heute gilt sie als eine der grössten Universalgelehrten der Menschheitsgeschichte. Ihre Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert zeigt jedoch, dass sie während fast sieben Jahrhunderten in Vergessenheit geraten war. Überliefert sind Dokumente, die ihr immenses musikalisches Wissen bezeugen und auf ihr Netzwerk von Kontakten in ganz Europa hinweisen. Für die Gründung ihres Klosters organisierte sie den Schutz Kaiser Friedrichs I., geriet jedoch gegen Ende ihres langen Lebens aufgrund unterschiedlicher Meinungen in Bezug auf die Ausführung der Liturgie in einen offenen Konflikt mit der Kirchenbehörde in Mainz. Ihr und ihrem Kloster wurde es verboten, das Stundengebet zu singen und die Eucharistie zu feiern. Sie blieb standhaft, geleitet von ihrem Glauben, ihrem umfangreichen Wissen und ihrer Tatkraft.
Sprünge ins Risiko
Im Unterschied zu Hildegard von Bingen, die im geschützten Rahmen des Klosters waltete, waren viele andere Persönlichkeiten der Musikgeschichte Unsicherheiten jeglicher Art ausgesetzt. Georg Friedrich Händel etwa hätte, wäre es nach seinem Vater gegangen, Jura studiert – ein erfolgversprechenderer Beruf. Sein ausserordentliches Talent ebnete ihm den Weg zum Musiker und Komponisten. 1712 siedelte er nach England über, wo er sich innert kurzer Zeit als Konzert- und Opernunternehmer etablierte. Jedoch begleiteten ihn stets existenzielle Fragen, denn Musikgeschmack kann sich ändern oder die Konkurrenz stärker werden. Sein beharrlicher Unternehmergeist und seine Schaffenskraft – immerhin umfasst sein Gesamtwerk über 600 Kompositionen – hatten zur Folge, dass er die Institution der Oper in England und Europa massgeblich mitprägte.
Gewagt wirken aus damaliger Perspektive auch die Neuerungen Ludwig van Beethovens. 1805 liess er erstmals überhaupt in einem Klavierkonzert das Soloinstrument vor dem Orchester erklingen – ein Bruch mit der konventionellen Kompositionspraxis einer Einleitung durch das Orchester. Wohl noch einiges mehr wagte er in seiner Neunten Sinfonie, in deren letztem Satz er gar einen Chor und Gesangssolist*innen auftreten liess. Einen Ansatz, den Richard Wagner übernahm und 1842 in seinem «Liebesmahl der Apostel» umkehrte: Erst im letzten Drittel kommt das Orchester zum Männerchor hinzu. Doch auch Wagner prägte das Musikgeschehen. Im Gegensatz zu den gängigen Nummernopern entwarf er sein Musikdrama, dessen Ziel es war, Orchester, Chor und Sänger*innen in einem grossen Ganzen zu vereinen. Damit beeinflusste er die Gattung der Oper nachhaltig. Revolutionär war Wagner aber nicht nur musikalisch, sondern auch politisch: An den Revolutionen von 1848/49 beteiligte er sich aktiv – anonym als Schriftsteller und in Person auf den Barrikaden in Dresden. Die Folge: Er wurde steckbrieflich gesucht und floh über Umwege in die Schweiz, wo er sein Musikdrama weiterentwickelte.
Revolutionärinnen
Es ist kaum erstaunlich, dass Figuren wie Beethoven und Wagner bis heute zu den grossen Revolutionären der Musikgeschichte zählen. Genauso gab es auch Revolutionärinnen. So sah sich die 1887 in Arkansas geborene Komponistin Florence Price gleich mit zwei «Handicaps» konfrontiert, wie sie es 1843 dem Dirigenten Serge Koussevitzky schilderte: mit ihrem Geschlecht und ihrer afroamerikanischen Herkunft. Die bereits zweifach geschiedene Künstlerin bestand darauf, «einzig und allein» nach ihrem «Können beurteilt [zu] werden». Auf der Flucht vor dem im Süden der USA institutionalisierten Rassismus und der gesetzlich verankerten Segregation war sie bereits 1926 mit ihrem ersten Mann und den drei Kindern nach Chicago gezogen. In der Musik trotzte sie den Umständen und liess ihre Herkunft in ihre Kompositionen einfliessen. Kunstvoll verschränkte sie etwa in ihrer ersten und dritten Sinfonie sowie in ihrem Klavierquintett die Formen der klassischen mit jenen der afroamerikanischen Musik. Die Beharrlichkeit zahlte sich aus. Ihre Werke wurden gefeiert, und ihr Wirken prägte den Aufschwung der afroamerikanischen Kunst dieser Zeit mit.
Einen ähnlich unbeugsamen Willen zeigte auch Ethel Smyth in England: Sie trat 1877 in einen Hungerstreik, um ihr Kompositionsstudium in Leipzig gegen den Willen ihres Vaters zu erwirken. Sie setzte sich durch und etablierte sich europaweit als Komponistin: bis 1890 mit kammermusikalischen Werken, danach mit Orchesterkompositionen, Opern und Messen. Genauso kraftvoll engagierte sie sich in der Gesellschaft. 1911 schloss sie sich der Suffragettenbewegung an und landete entsprechend für zwei Monate im Gefängnis. Ihr ziviler Ungehorsam blieb jedoch ungebrochen: Aus dem Fenster des Gefängnisses lehnend dirigierte sie mit einer Zahnbürste eine Gruppe im Innenhof marschierender Frauen, die ihren «March of the Women» sangen. Sie liess sich genauso wenig wie Florence Price von gesellschaftlichen Einschränkungen beeindrucken. Aus Überzeugung folgten sie beide ihrer Berufung als Komponistinnen und ebneten damit den Weg für Nachfolgerinnen.
Skandale: Bedrohlich und beliebt
Unvergessen sind indes verschiedene Skandale der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um zwei russische Komponisten. Während der eine sofortige internationale Anerkennung für seine Arbeit erntete, sah sich der andere massiven Bedrohungen ausgesetzt. Der erfolgreiche Weg des 1906 geborenen Dmitri Schostakowitsch nahm 1936 nach der Uraufführung seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk» im Jahr 1934 ein jähes Ende. Das Werk, das von Gewalt und Unterdrückung in russischen Zwangsarbeitslagern im 19. Jahrhundert handelt, stiess auf Ablehnung durch den sowjetischen Machthaber Josef Stalin. «Kakophonie» und Primitivität lauteten nur ein paar der Vorwürfe. Damit hatte sich Schostakowitsch selbst in akute Gefahr gebracht. Als Konsequenz schlief er mit gepacktem Koffer neben dem Bett, aus der existenziellen Angst heraus, jederzeit vom Geheimdienst verhaftet zu werden. Doch auch er liess sich nicht brechen: «Und wenn sie mir beide Hände abhacken, werde ich mit Zähnen eine Feder halten und weiter Musik schreiben.» Er komponierte also weiter, suchte Wege, eine Tonsprache zu finden, mit der er überleben konnte, ohne sich dem Regime zu beugen. Besonders seine fünfte Sinfonie ist Ausdruck dieses Widerstandes: Die Moll-Sinfonie endet in Dur, wie es bereits Beethoven in seiner Fünften Sinfonie gemacht hatte. Gebrochen von Dissonanzen will der Triumph am Ende des vierten Satzes aber keiner sein. Einer freieren Kompositionsweise folgte Schostakowitsch in seiner Kammermusik, insbesondere in seinen Streichquartetten Nr. 1 bis 5. Diese Werke jedoch blieben, aus nachvollziehbaren Gründen, bis zum Ende der Stalin-Diktatur teilweise ungespielt.
Im Vergleich dazu scheinen Igor Strawinskys Skandale schon fast triumphal, wie etwa die Uraufführung von «Le Sacre du Printemps» am 29. Mai 1913. Das Publikum, so die Überlieferung, war entsetzt, als die Gruppe «Ballets Russes» statt auf den Spitzen auf flachen Füssen tanzte, sich in ungewohnten Kostümen verrenkte, während Strawinskys äusserst rhythmisierte und melodisch auf das Wesentliche reduzierte Musik sie begleitete. Doch genau dank solcher klanglichen Wagnisse erzielte Strawinsky nicht nur zu seinen Lebzeiten durchschlagenden Erfolg; er gilt bis heute als Wegbereiter der musikalischen Moderne.
Die Geschichte der Musik ist gezeichnet von mutigen Menschen, gesellschaftlich, politisch oder kompositorisch. Dem Wagemut unzähliger Menschen ist es schliesslich zu verdanken, dass 1952 etwa John Cage in «4’33’’» Stille auskomponieren und Arturo Marquez sich 2023 in seiner «Sinfonía Imposible» musikalisch mit der Gleichberechtigung und dem Klimawandel auseinandersetzen konnten. Diese Möglichkeiten sind Verdienste unbeirrter Entschlossenheit, andere Wege zu gehen und eigenen Überzeugungen zu folgen – was auch immer die Konsequenzen sein mögen.
Die Musikwissenschaftlerin Dr. phil. Viviane Nora Brodmann lebt den Spagat zwischen Musikgeschichte und aktuellem Musikgeschehen vor und hinter den Kulissen. Während sie im Künstlerischen Betriebsbüro der Tonhalle-Gesellschaft Zürich mit anderen für reibungslose Konzertabläufe sorgt, pflegt sie ihre Leidenschaft für musikhistorische Themen mit Einführungen und Textbeiträgen zu unterschiedlichsten Themen - von Werkbetrachtungen bis hin zu Ohrenleiden.