Mut zum eigenen Klang
Viele junge Menschen scheuen sich heutzutage vor dem Telefonieren. Die meisten wissen nicht einmal, welchen Klingelton sie eingestellt haben – das Handy ist ohnehin fast immer auf lautlos. Ein Anruf wirkt wie ein ungebetener Eingriff in die Privatsphäre. Gespräche müssen angekündigt werden. Stattdessen bevorzugen viele den Austausch über Sprachnachrichten. Diese können mehrere Minuten lang sein – oft ist es sinnvoll, sich Notizen zu machen, um auf alle Fragen eingehen zu können. Das Gespräch wird dadurch unnatürlich fragmentiert und verzögert.
Ganz anders ist es beim gemeinsamen Singen. Hier ist Unmittelbarkeit gefragt: Man muss im richtigen Moment einsetzen, kann sich keinen Extratakt Pause gönnen oder den Einsatz verschieben. Mitunter braucht es auch Mut, sich die eigene Stimme auf einer Aufnahme anzuhören. Sie klingt fremd, verzerrt – nicht so, wie man sich selbst wahrnimmt oder erwartet hat. Erst mit der Zeit entwickelt man ein Gefühl der Vertrautheit mit der eigenen Stimme – und im besten Fall auch eine Wertschätzung für ihren individuellen Klang. Was anfangs fremd oder unangenehm wirken kann, wird durch regelmässiges Singen zunehmend vertraut.
Das Chorsingen unterstützt diesen Prozess auf besondere Weise. Es macht deutlich, wie sehr sich individuelle Schwächen in einem kollektiven Klangbild relativieren können. Eine einzelne Stimme mag unsicher, nasal oder brüchig erscheinen, doch im Zusammenspiel mit anderen entsteht ein ausgewogener, tragfähiger Gesamtklang. Die Vielfalt der Stimmen führt zu einer klanglichen Dichte, die das subjektive Empfinden der eigenen «Unvollkommenheit» in den Hintergrund treten lässt.
Darüber hinaus fördert das gemeinsame Singen ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Während einer Aufführung entsteht eine konzentrierte, oft begeisterte Atmosphäre, die von allen Mitwirkenden getragen wird. In solchen Momenten wird Singen – wie die Sängerin Christa Ludwig es formulierte – zu einem «Verströmen von Liebe». Und ein Konzert, das in dieser Dichte und Lebendigkeit dargeboten wird, kennt keine einzige langweilige Minute.
«Singen muss ein Verströmen von Liebe sein, sonst ist es nach fünf Minuten langweilig.» (Christa Ludwig, Lieder- und Opernsängerin)
Die etwas andere Chorwoche
An der Singwoche des Davos Festivals sind alle Singbegeisterten willkommen. Das diesjährige Programm bietet wiederum täglich zahlreiche Möglichkeiten, unter der Leitung von Joël Morand und Lea Stadelmann zu singen und Workshops zu verschiedenen Themen zu besuchen. Wie atme ich richtig ein, und wie singe ich besonders hohe Töne? Wie kann die Stimme voller klingen? In den gemeinsamen Proben werden Antworten auf diese Fragen gesucht.
Joël Morand und Lea Stadelmann haben ein kunterbuntes Programm zusammengestellt, das einen lustvollen Einblick in das breite Chorrepertoire ermöglicht. Nebst bekannten Volksliedern werden auch kunstvolle Kompositionen gesungen, die das Festivalthema Mut aufnehmen.