Berührend
Zeitdokument
extravagant
Juni 1940, auf einem Feld bei Toul westlich von Nancy: Nach der Niederlage Frankreichs hatten die Deutschen dort «Tausende von erschöpften, verratenen Soldaten wie in einem Fischernetz zusammengepfercht», wie sich der Dichter Guy Bernard später erinnerte. Die Franzosen hausten unter freiem Himmel und warteten auf den Abtransport in die schlesischen Lager. Mitten in dem Trubel brachte der Klarinettist Henri Akoka unter freiem Himmel vor Tausenden von Mitgefangenen ein Solostück zur Uraufführung, das Olivier Messiaen im Lager für ihn geschrieben hatte. Der Cellist Régis Pasquier diente ihm als Notenständer. Ab und zu geriet der Solist ins Stocken und Fluchen: «Das werde ich niemals können!» Doch der Komponist beruhigte ihn: «Keine Bange, du wirst schon sehen.»
Die Uraufführung des gesamten Werks fand unter nicht weniger berührenden und dramatischen Umständen statt als die des Klarinettensolos auf einem Acker bei Nancy: Im Stalag VIIIA bei Görlitz, wo «achttausend Belgier und vierzigtausend Franzosen in ein Lager mit dreißig Baracken kamen», war eine Baracke zum Lagertheater umgebaut worden, eine andere zur Kirche. In Letzterer räumte man Messiaen eine Ecke zum Komponieren ein, in Ersterer kam am 15. Januar 1941 das vollendete Quatuor pour la fin du temps zur Uraufführung, das Messiaen auf Notenpapier geschrieben hatte, welches ihm ein deutscher Hauptmann besorgt hatte. Auch die deutsche Lagerleitung war anwesend, umgeben von vierhundert Franzosen, die wegen der Januarkälte in geflickte tschechische Uniformen und Holzpantoffeln gesteckt worden waren, um der Uraufführung des Quartetts zu lauschen.
In seinen eigenen Erinnerungen hat Messiaen die Zahl der Zuhörer auf fünftausend erhöht, was sicher symbolisch gemeint war. Denn mit dem inneren Ohr hörte damals tatsächlich das halbe Lager zu: «Das Publikum war eine äusserst vielfältige Mischung aus allen Gesellschaftsschichten – Landarbeiter, Hilfsarbeiter, Intellektuelle, Berufssoldaten, Ärzte und Geistliche. Nie wieder hat man mir mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört wie damals», schrieb Messiaen Jahrzehnte später.
Text von Karl Böhmer
Grażyna Bacewicz (1909–1969)
Streichquartett Nr. 3 (1948)
Allegro ma non troppo
Andante
Vivo
Zoltán Kodály (1882–1967)
Miserere (1903)
Olivier Messiaen (1908–1992)
Quatuor pour les fins du temps (1941)
Liturgie de cristal
Vocalise, pour l’Ange qui annonce la fin du Temps
Abîme des oiseaux
Intermède
Louange à l’Éternité de Jésus
Danse de la fureur, pour les sept trompettes
Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la fin du Temps
Louange à l’Immortalité de Jésus